Freitag, 18. Juni 2010

Frieden ist Krieg

Mit wem Die Linke in die Propagandaschlacht gegen Israel zieht

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Selten war sich die deutsche Öffentlichkeit in ihrer Empörung einiger: »Blutiger Angriff Israels auf Gaza-Hilfsflotte« (Spiegel online); »Israel schockt den Nahen Osten« (Süddeutsche); »Angriff Israels auf Solifahrt für Gaza« (taz); »Israel ohne Maß« (FAZ) – so oder ähnlich lauteten die Überschriften, nachdem es auf einem der Schiffe der so genannten »Free Gaza«-Flotilla, der »Mavi Marmara«, zu einer blutigen Konfrontation mit der israelischen Armee gekommen war. Fast unwidersprochen kursierte zunächst die Version der an Bord befindlichen Aktivisten, Israel habe eine humanitäre Mission für das notleidende Gaza mit brutaler Gewalt verhindert und dabei kaltblütig mindestens neun Menschen erschossen. Erst nach Tagen konnten sich vereinzelt auch andere, abweichende Stimmen Gehör verschaffen.

Soviel Einigkeit, wie man sie hierzulande allenfalls noch bei Fußballweltmeisterschaften oder Schlagerwettbewerben erlebt, sollte stutzig machen. Und noch stutziger sollte machen, dass sich diese stillschweigende Gleichschaltung der öffentlichen Meinung immer dann vollzieht, wenn es um Israel geht. Als bei einem Luftangriff der Bundeswehr in Afghanistan 142 Menschen, darunter zahlreiche Zivilisten, starben, gab es hierzulande kaum spontane Empörung – und wenn, dann vor allem über die NATO-Verbündeten für deren angebliche »Vorverurteilung« des deutschen Kommandanten. Wenn es aber bei dem Versuch, eine israelische Militärblockade zu durchbrechen, Tote gibt, elektrisiert das von der Bundesregierung bis zur Linkspartei, von der Kirche bis zur NPD jeden; und niemand warnt vor voreiligen Schlüssen, denn alle kennen schon den Schuldigen. Grund genug, ein paar Fragen zu stellen.


Welches Ziel verfolgte die »Freedom Flotilla«?
In fast allen Berichten ist die Rede von einer humanitären Hilfsaktion für die Menschen in Gaza. Dazu wäre freilich die ganze Flotteninszenierung nicht nötig gewesen. Die israelische Regierung hatte mehrfach öffentlich angeboten, die Güter in Ashdod anzunehmen, unter internationaler Aufsicht nach Kriegsgerät zu durchsuchen und dann nach Gaza weiterzuleiten.

Die Initiatoren der »Free Gaza«-Flotte haben auch nie damit hinter dem Berg gehalten, worum es ihnen eigentlich ging: nämlich darum, den Druck auf Israel zu erhöhen, die Grenzblockade des Gazastreifens aufzuheben. Seit dort die Hamas die Macht übernommen und ein islamistisches Regime errichtet hat, wird dieses von internationalen Dschihadisten, allen voran der Islamischen Republik Iran, systematisch für ihren Heiligen Krieg gegen Israel aufgerüstet. Für die Hamas, die in ihrer Charta die Vernichtung Israels propagiert, ist jeder Israeli, ob Soldat oder Zivilist, ein »zionistischer Eindringling«, und damit ein legitimes Angriffsziel. Über Jahre hat sie die Bevölkerung in den an Gaza angrenzenden israelischen Ortschaften mit Raketen beschossen, bis dies im Winter 2008/09 von der israelischen Armee unterbunden werden konnte. Israel und Ägypten haben daher alle Zugänge nach Gaza abgeriegelt, um den islamistischen Waffenschmuggel unter Kontrolle zu bekommen.

Was Norman Paech, einer der Aktivisten der Freedom-Flotte, als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«[1] in eine Reihe mit den Taten Nazideutschlands stellt, dient also schlicht dem Zweck, die Bürgerinnen und Bürger Israels vor feindlichen Angriffen zu schützen. Wer einem Staat dieses selbstverständliche Recht absprechen will, indem er, wie von der »Freedom Flotilla« geplant, die Blockade durchbricht, leistet keine humanitäre Hilfe. Er nimmt vielmehr Partei in einem bewaffneten Konflikt – und zwar auf Seiten des Aggressors.


Wie dramatisch ist die humanitäre Lage in Gaza?
Natürlich führt die Blockade dazu, dass es in Gaza nicht nur an Waffen mangelt, sondern auch an vielem anderen. Um Abhilfe zu schaffen, hat Israel seit Beginn der Abriegelung tausende Tonnen an Hilfsgütern geliefert; dazu kommt noch die humanitäre Unterstützung aus den USA, der Europäischen Union und der UNO. Insgesamt entfallen auf die palästinensischen Autonomiegebiete, auf die Bevölkerungszahl umgerechnet, weltweit mit Abstand die meisten Hilfsgelder. In Gaza herrschen daher Zustände, die zwar ärmlich sind, von denen aber die meisten Menschen in Mombasa und in Pnomh Penh, in Kairo und in Damaskus nur träumen können.

Die »Free Gaza«-Aktivisten versuchen deswegen auch gar nicht erst, den Eindruck einer hungernden Bevölkerung zu erwecken. Der bereits zitierte Norman Paech erklärt ganz offen, dass der eigentliche Skandal nicht in Unterversorgung bestehe, sondern darin, dass die Menschen in Gaza, um ihr Leben zu fristen, »total abhängig von den Israeli« seien. Diese Angewiesenheit auf israelische Hilfe, so die krude Logik, gebiere schließlich auch »die Gewalt im Gaza-Streifen, wie sie sich im Abschuss von Raketen auf Israel äußert.« So perfide ist, nach Meinung eines deutschen Menschenrechtsaktivisten, der zionistische Erzteufel: Er zwingt die Menschen sogar mit Hilfslieferungen dazu, auf ihn zu schießen!

Darum hat Paech auch vollstes Verständnis für die Entscheidung der Hamas, die Annahme der von den israelischen Behörden weitergeleiteten Ladungen der »Freedom Flotilla« zu verweigern, solange die Blockade nicht zur Gänze aufgehoben sei. Man stelle sich, nur zum Vergleich, einmal vor, die eritreische Regierung verweigerte ihrer Bevölkerung die Annahme humanitärer Hilfe, solange die äthiopische Armee sich nicht aus der Grenzregion zurückgezogen habe. Zweifellos ginge ein Aufschrei der Empörung um die Welt. Wenn es aber gegen Israel geht, wird so etwas voll und ganz verstanden.

Das Beispiel zeigt drastisch, wer in Wahrheit für die Lage der Bewohner Gazas verantwortlich ist. Die Hamas quält nicht bloß Frauen und Schwule, Säkulare und angebliche »Kollaborateure« mit ihrem Tugendterror. Sie zwingt die Bevölkerung auch, die Zeche für ihren Heiligen Krieg gegen Israel zu zahlen. Dass es auch anders ginge, beweist die Situation im Westjordanland, wo in den letzten beiden Jahren, nach der Entspannung des Konflikts zwischen Israel und der regierenden Fatah, die Grenzkontrollen gelockert wurden und ein Wirtschaftsaufschwung mit zehnprozentigen Wachstumsraten einsetzte[2]. Die Hamas aber verweigert jedes Entgegenkommen (etwa die Freilassung des seit vier Jahren entführten israelischen Soldaten Gilad Schalit). Sie braucht für ihren mörderischen Antisemitismus keine Bevölkerung, die auf ein besseres Leben hofft – sondern Menschen, die keine Perspektive kennen als leiden und morden. Die Tragik ist nur, dass so viele das Spiel mitspielen, statt sich gegen ihre islamistischen Unterdrücker zu erheben.


Wer steckt hinter der »Free Gaza«-Flotilla?
In Medienberichten ist viel von Friedens- und Menschenrechtsaktivisten die Rede, die den Konvoi organisiert haben sollen. Und in der Tat befanden sich an Bord der Schiffe auch einige bekannte europäische und US-amerikanische Friedensbewegte und Globalisierungskritiker. Dass es auch diesen nicht darum ging, Menschen in Not zu helfen, zeigen die Statements des prominentesten unter ihnen, des schwedischen Schriftstellers Henning Mankell. Er setzt sich nicht bloß für ein Ende der israelischen Besatzung ein, sondern bestreitet dem Staat Israel überhaupt dessen »völkerrechtliche Legitimät«. Ginge es nach ihm, dürfte Israel sich nur noch entscheiden, ob es »freiwillig einer Abwicklung des Apartheidstaates« zustimme – oder ob diese »Abwicklung« »zwangsweise geschehen wird.«[3]

Das Gros der Mitreisenden stellten jedoch die islamistischen Verbündeten der Hamas. An Bord waren hochrangige Mitglieder der Muslimbruderschaft, der Keimzelle des modernen Dschihadismus, aus Ägypten, Libanon, Jordanien, Syrien, dem Jemen, Kuwait und Bahrain[4] sowie Repräsentanten aller türkischen islamistischen Vereinigungen[5] dies- und jenseits der Regierungspartei AKP – darunter z.B. Vertreter der Saadet Partisi, deren Gründer und Aushängeschilder im Juli 1993 in Sivas den Mob zu einem Pogrom gegen ein alevitisches Kulturfestival aufhetzten, dem 37 Menschen zum Opfer fielen.[6] Zu dieser islamistischen Prominenz gesellten sich noch führende Vertreter der faschistischen »Partei der großen Einheit« (BBP)[7], die zum Netzwerk der berüchtigten »Grauen Wölfe« gehört und für den Mord am türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink im Januar 2007 verantwortlich ist. Sie alle eint der Hass auf den jüdischen Staat.

Insbesondere die »Mavi Marmara«, auf der es am Abend des 31. Mai zu der blutigen Konfrontation mit israelischen Soldaten kam, erwies sich als Trutzburg der Dschihadisten – pikanterweise exakt jenes Schiff, auf das auch die deutschen Delegationsteilnehmer während der Fahrt gewechselt waren. Die »Mavi Marmara« gehört ebenso wie zwei weitere Boote der Flotte der in der Türkei und in Deutschland aktiven »Wohltätigkeitsorganisation« IHH, deren Sprecher, Ümer Faruk Korkmaz, ganz offen erklärte, es sei ihr darum gegangen, »Israel vorzuführen«. Gegen die IHH wurde schon in den 90er Jahren ermittelt, weil sie mit Spendengeldern Waffen für tschetschenische Terroristen finanziert haben soll. Heute rekrutiert sie nicht nur erfolgreich Dschihadisten für Afghanistan[8], sondern sponsort nach Recherchen der türkischen Politkwissenschaftlerin Nilüfer Narli auch den Terror der Hamas.[9] Ganz in diesem Sinne skandierte die Besatzung der »Mavi Marmara« schon beim Ablegen: »Erinnert Euch an Khaibar, Khaibar, oh Juden! Die Armee Mohammeds wird zurückkehren!«[10] Als das Schiff von den Israelis per Funk aufgefordert wurde abzudrehen, kam von den Flottisten als Antwort: »Geht zurück nach Auschwitz!«[11]

Es ist exakt diese Geisteshaltung, die zu den Ereignissen führte, welche die Videoaufnahmen des Entervorgangs der »Mavi Marmara« dokumentieren: Wie entmenscht schlagen die Aktivisten mit Eisenstangen auf die israelischen Soldaten ein, die ihnen in die Hände fallen. Man kann das, wie die deutschen Delegationsteilnehmer es tun, als legitime Selbstverteidigung bezeichnen (und dazu lügen, dass sich die Balken biegen[12]). Man kann es aber auch mit seinem richtigen Namen benennen: eliminatorischer Antisemitismus.


Welches Interesse verfolgt die Türkei mit ihrer Unterstützung?
Viel ist geschrieben worden darüber, dass Israel durch den Angriff auf die »Mavi Marmara« mit der Türkei seinen letzten Verbündeten in der Region verloren habe. Wenig ist dagegen analysiert worden, was das türkische Regierungslager bewog, militanten Dschihadisten ihre Unterstützung zuzusichern.

Schon die Tatsache, dass die »Grauen Wölfe«, die faschistische Reserve des türkischen Nationalismus, mit ihren Kontrahenten von einst, den antikemalistischen Islamisten von AKP, Milli Görüş und Saadet Partisi, gemeinsame Sache gegen Israel machen können, zeugt von dem grundlegenden politischen Wandel, der sich in der Türkei in den letzten Jahren ereignet hat. Seit der Wahl Erdogans und seiner AKP macht die propagierte Reislamisierung der Türkei innenpolitisch – gebremst durch Rücksichten aufs Militär und die ökonomische Orientierung auf die EU – nur mühsam Fortschritte. Umso wichtiger sind symbolische Aktionen für die Sache Allahs. Nichts eignet sich dafür besser als antiisraelische Propaganda. Schon 2009 machte Erdogans inszenierter Wutausbruch gegen den israelischen Präsidenten Peres den Premier zum Helden der verhetzten islamischen Massen. Mit der Eskalation auf der unter türkischer Führung stehenden »Mavi Marmara«, die israelische Diplomaten im Vorfeld händeringend zu verhindern versucht hatten, bekam die AKP-Regierung endlich den ersehnten Anlass, den längst vorbereiteten außenpolitischen Kurswechsel zu vollziehen. Anders als Israel hat sie dabei materiell wenig zu verlieren, aber die Achtung ihres neuen Verbündeten zu gewinnen – der (bald auch atomar bewaffneten) Islamischen Republik Iran des Menschenschinders Achmadinejad.

Bemerkenswert immerhin, dass die allgemeine Einigkeit gegen Israel dennoch den politischen Riss, der sich durch die türkische Gesellschaft zieht, nicht vollständig zu kitten vermag. So kommt es, dass in dem Land, in dem es die heftigsten antiisraelischen Ausbrüche gab, zugleich die Presse weit realistischer berichtete als etwa hierzulande. Es waren nicht FAZ, Süddeutsche und FR, sondern Vatan, Milliyet und Hürriyet, die Blätter des kemalistischen Nationalismus, die als erste die Beteiligung gewaltbereiter Islamisten an der »Free Gaza«-Flotte anprangerten und Bilder schwer verletzter israelischer Soldaten zeigten.


Welche Reaktion der Israelis hatten die Aktivisten erwartet?
Zurück in Deutschland, erklärten die »Freedom Flotilla«-Aktivisten immer wieder, dass sie niemals mit Toten gerechnet hätten. Das steht in einem so schreienden Widerspruch zu den Aussagen der türkischen und arabischen Teilnehmer, dass es schwer zu glauben scheint. Mehrere Aktivisten kamen vor Abfahrt der Aufforderung der Organisatoren nach, ihren letzten Willen zu verfassen, und zahlreiche Teilnehmer, darunter auch der Sprecher der IHH, erklärten in Interviews ihren Wunsch, »Gaza zu erreichen oder zu sterben«.[13] Dass der Wunsch zu sterben durchaus die Übermacht gewinnen konnte, zeigen Berichte, nach denen drei der an Bord der »Marmara« getöteten Türken ihre Familien vor der Abfahrt auf ihren kommenden Märtyrertod vorbereitet hatten – eine Tatsache, die die Angehörigen heute voller Stolz feiern.[14]

Zur Abfahrt der Freedom Flotilla hatte Hamas-Führer Ismail Haniya erklärt: »Wenn die Schiffe Gaza erreichen, ist das ein Sieg – und wenn sie von den Zionisten terrorisiert werden, ist das ebenfalls ein Sieg.«[15] Das war das Drehbuch, dem die Aktivisten auf der »Mavi Marmara« folgten. Denn wer schwer bewaffnete Soldaten mit Eisenstangen angreift, tut es nicht, um sich selber zu verteidigen. Er tut es in der Hoffnung, diese zum Eingreifen zu zwingen – und dabei, wenn alles gut läuft, einige von ihnen mit in den Tod zu nehmen. Wer da nicht im Vorfeld einschreitet; wer derlei Märtyreraktionen gar noch nachträglich als legitim verteidigt, wie es die deutschen Linksparteiabgeordneten tun – der handelt selbst im besten Fall nicht mehr naiv, sondern verantwortungslos. Wahrscheinlicher aber ist, dass auch er auf den moralischen Mehrwert spekuliert, den Opfer der Israelis immer bringen; dass er um die Toten nicht trauert, sondern sie als Geschenk des Himmels betrachtet – ganz gleich, ob in diesem Himmel Allah thront oder das Völkerrecht.


Hat Israel also gar keine Fehler gemacht?
Über die Verantwortung der Soldaten und ihrer Vorgesetzten werden israelische Gerichte zu entscheiden haben; und da diese eine lange Tradition besitzen, die Rechte des Individuums über die Staatsräson zu stellen, kann man guten Gewissens annehmen, dass Fehlverhalten – sei es bei der Durchführung, sei es bei der Vorbereitung des Einsatzes – aufgedeckt werden wird.

Der entscheidende politische Fehler, der von israelischer Seite begangen wurde, ist freilich jetzt schon offensichtlich. Nur entspricht er gerade nicht dem Klischee von den rücksichtslosen Killern. Wider besseres Wissen hat man vielmehr so getan, als habe man es auf der »Mavi Marmara« wirklich mit Friedensaktivisten zu tun – und nicht mit zu allem entschlossenen Dschihadisten. Dementsprechend wurden die Soldaten, statt auf einen bewaffneten Angriff, auf Beschimpfungen und passiven Widerstand vorbereitet. Und statt Tränengas an Deck zu werfen, um ungestört entern zu können, schickte man mit Paintballgewehren ausgerüstete Soldaten vor, die dem Lynchmob wehrlos ausgeliefert waren. Dass die Nachrücker, um ihr Leben und das der anderen Soldaten zu retten, zur Schusswaffe greifen mussten, spielte genau dem oben beschriebenen Kalkül der Islamisten in die Hände. Die bittere Ironie ist: Wäre das Militär von Anfang an so vorgegangen, wie es Friedensaktivisten immer wieder anprangern, wären Tote vielleicht zu verhindern gewesen – und damit auch der wirksamste Teil des Propagandacoups der Israelfeinde.


Und wie steht es mit dem Völkerrecht?
Denkbar, dass der Internationale Seegerichtshof das Aufbringen der »Mavi Marmara« als Akt der Piraterie in internationalen Gewässern verurteilt. Denkbar ebenso, und wahrscheinlicher, dass er, gemäß dem Kriegsrecht auf See[16], Israel recht geben wird. So oder so – welche neuen Erkenntnisse zur politischen und moralischen Bewertung wären damit gewonnen?

Jeder Staat hält sich solange an das internationale Recht, wie es ihm opportun erscheint – aus dem einfachen Grund, weil keine über den Staaten stehende Instanz existiert, die dieses Recht auch effektiv durchzusetzen vermöchte. Was Völkerrecht genannt wird, ist daher eine Mischung aus dem, was die international durchsetzungsfähigsten Staatsgewalten als ihr Gewohnheitsrecht reklamieren, und bloßem Propagandagetöse. Auch die Anhänger der »Freedom Flotilla« berufen sich zwar gerne aufs Völkerrecht, wenn es ihnen politisch in den Kram passt; steht es ihnen entgegen, sprechen sie lieber von imperialistischen Diktaten.

Dass die Rede vom Völkerrecht in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich an Popularität gewonnen hat, liegt genau an dessen ideologieträchtigem Charakter. Die Fantasie, nicht nur zwischen Staatsbürgern, auch zwischen den Staaten selber könne das Recht herrschen, leugnet die Differenz von Individuum und Gesellschaft. Indem sie den Staat, die institutionalisierte Gewalt, vermenschlicht, verniedlicht sie sie. Umgekehrt erscheint ein staatliches Handeln dann, wenn es die Normen verletzt, nicht mehr als Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse, sondern als Ausdruck eines bösen, schurkischen Charakters. Das erklärt die Begeisterung, mit welcher das Völkerrecht gerade gegen Israel ins Feld geführt wird.


Was genau wollten Repräsentanten der Linkspartei an Bord der »Mavi Marmara«?
Man sollte meinen, die Zusammenarbeit mit Dschihadisten und Faschisten, mit Kommunistenmördern, Frauenhassern und Kurdenschlächtern also, müsste für Vertreter solcher Organisationen wie Pax Christi, der IPPNW und der Partei »Die Linke« ein Ding der Unmöglichkeit sein. Man sollte erwarten, dass sie, auf diese Zusammenarbeit angesprochen, sich nachträglich davon distanzieren und ihren Fehler eingestehen. Tatsächlich aber ist genau das Gegenteil passiert. Auf einer gemeinsamen Veranstaltung mit den »Free Gaza«-Aktivisten Norman Paech und Nader el Sakka erklärte der Hamburger Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Jan van Aken, als er auf die Kollaboration mit den Grauen Wölfen angesprochen wurde: Er habe auch 1992 schon, bei einer Trauerkundgebung nach dem Brandanschlag auf ein von Türken bewohntes Haus in Mölln, sich nicht gegen die Teilnahme der türkischen Faschisten verwahrt.[17] Denn, so durfte das begeistert applaudierende Publikum den Gedankengang assoziativ vollenden, auch damals ging es ja gemeinsam gegen Nazis.

Das mag irrwitzig erscheinen; und doch hat es, leider, Methode. Es war (weltweit, aber insbesondere auch in Deutschland) die Neue Linke, die nach Auschwitz den Hass auf Juden erstmals wieder respektabel machte – als Hass auf die »Zionisten«[18]. Seither ist das vorherrschende Erscheinungsbild des Antisemitismus ein linkes: nicht mehr reaktionär und ewiggestrig, sondern der Zukunft zugewandt; nicht mehr gegen die Juden als wurzellose Zersetzer gerichtet, sondern als nationalistische Eroberer. Diese Modernisierung des Antisemitismus zum »Antizionismus« erwies sich als großer Erfolg; vielleicht der bleibendste der Neuen Linken. Edel, hilfreich und gut, das heißt heute fast schon automatisch: gegen Israel sein. Und die palästinensischen Freischärler haben Routine darin, jene schaurig-schönen Opferbilder zu liefern, die dem Ressentiment das gute Gewissen verschaffen – etwa, indem ihre Heckenschützen sich hinter Kindern oder Krankenhäusern verschanzen. Die blutige Inszenierung auf der »Mavi Marmara« steht ganz in dieser Tradition des 'Pallywood'.

Je erfolgreicher dieser »Antisemitismus der edlen Seelen« (Eike Geisel) wird, desto mehr bleibt die Linke auf ihn verwiesen. Desto mehr aber macht sie sich auch als Linke überflüssig. Was sie, als Stimme des Dissenses, vom Rest der Gesellschaft einmal unterschieden hat, tritt hinter das alles beherrschende Thema zurück. Skandinavische Sozialisten, deutsche Friedensaktivisten, indische No-Globos oder lateinamerikanische Populisten scheint inzwischen kaum ein anderer Gegenstand mehr umzutreiben als ihre Haltung zum »Nahostkonflikt«. Es ist das einzige Pfund, mit dem sie zu wuchern wissen, und sie müssen es immer schriller tun, um sich vom Mainstream, der ihnen in Sachen Israel teils zögerlich, teils begeistert folgt, überhaupt noch abzuheben.

Nie etwa hatte die Linkspartei eine bessere Presse als in den Tagen, als ihre Vertreter als Helden von der »Mavi Marmara« zurückkehrten. Nie aber unterschieden sich ihre Statements in der Sache weniger von denen der anderen Parteien. Nur der sich überschlagende Tonfall ließ die Differenz der »Linken« zu den etablierten Parteien erkennen, welche ihre Anklagen gegen Israel derzeit noch diplomatischer zu formulieren gezwungen sind. Dank der »Free Gaza«-Flotilla ist die Linkspartei wahrhaftig angekommen, wo sie immer hinwollte – im wiedervereinigten Deutschland. Sie befriedigt das Bedürfnis all der Walsers und Möllemanns, sich von den Juden nichts mehr vorhalten lassen zu müssen, auf bislang unerreichte Art: Sie präsentiert deutsche Opfer jüdischer »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«.

Kein Zufall daher, dass die an Bord der »Mavi Marmara« festgenommenen Bundestagsabgeordneten ihre Abschiebung zurück nach Deutschland als »Deportation« bezeichneten. Und erst recht kein Zufall, dass Norman Paech, auf der oben zitierten Veranstaltung, für den nächsten »Free Gaza«-Konvoi von Begleitschutz durch die deutsche Marine träumte. Mit deutschen Kanonenbooten den zionistischen Völkerrechtsverächter in die Knie zwingen: Das wäre der ultimative Entlastungsangriff für Auschwitz.

Wenn es soweit ist, wird die Linkspartei ihr Ziel, das sie derzeit bereits in Form der rot-braun-grünen »Free Gaza«-Querfront vorexerziert, endlich erreicht haben: dass es in Sachen Israel keine Parteien mehr gibt, sondern nur noch Deutsche. Als Linke wird sie dann notwendigerweise aufgehört haben zu existieren. Der Antisemitismus von heute mag ein linkes Gewand tragen; er bleibt das Feldzeichen der Konterrevolution.

1_http://www.taz.de/1/nord/artikel/1/%5Cder-mossad-war-vom-ersten-tag-dabei%5C/. – Gemeint ist der in den Nürnberger Prozessen geprägte Terminus »crimes against humanity«. Bezeichnend, dass Paech, der emeritierte Professor für Völkerrecht, hier die ebenso falsche wie beliebte, weil verniedlichende Übersetzung wählt; richtig müsste es heißen: »Verbrechen gegen die Menschheit«.
2_http://fdogblog.wordpress.com/2010/04/18/herzlichen-gluckwunsch-liebe-bewohner-der-westbank/
3_http://www.morgenpost.de/politik/article1319105/Henning-Mankells-Nichterlebnis-Bericht-ueber-Israel.html
4_Eine umfassende Aufstellung findet sich unter http://www.memri.org/report/en/0/0/0/0/0/0/4265.htm
5_http://www.islamigundem.com/israil-insani-yardimi-vurdu-dakika-dakika-gelismeler-haber-11074.html
6_http://www.youtube.com/watch?v=yMgmr6UuLe4&mode=related&search=
7_http://www.bbp.org.tr/duyuru_detay.php?icerikid=13
8_http://www.welt.de/politik/ausland/article7872108/Die-dubiosen-Passagiere-der-Hilfsflotte-fuer-Gaza.html
9_http://de.wikipedia.org/wiki/Ship-to-Gaza-Zwischenfall
10_http://www.welt.de/debatte/kommentare/article7885496/Linke-Gaza-Aktivisten-schuetzen-radikale-Islamisten.html
(In Khaibar ließ Mohammed laut islamischer Überlieferung einen jüdischen Stamm niedermetzeln.)
11_http://www.welt.de/politik/ausland/article7930203/Aufnahmen-zeigen-Brutalitaet-der-Blockadebrecher.html
12_Norman Paech behauptete zunächst, es habe höchstens »zweieinhalb Holzstöcke« und keine anderen Waffen an Bord des Schiffes gegeben. Als er den Einsatz von Eisenstangen nicht mehr leugnen konnte, verlegte er sich auf die Behauptung, die von den Flottisten unter Deck getragenen israelischen Soldaten seien gar nicht verletzt gewesen, sondern hätten »Kreislaufbeschwerden« gehabt.
13_Siehe die Berichte von MEMRI (http://www.memri.org/report/en/0/0/0/0/0/0/4265.htm und http://www.memri.org/report/en/0/0/0/0/0/0/4337.htm) oder den Clip unter http://www.youtube.com/watch?v=ihJxBqiogo0&NR=1

14_http://palwatch.org/main.aspx?fi=157&doc_id=2367
15_http://jungle-world.com/artikel/2010/23/41085.html
16_Das »San Remo Manual on International Law Applicable to Armed Conflicts at Sea« vom 12.6.1994 besagt unter Artikel 67: »Merchant vessels flying the flag of neutral States may not be attacked unless they:
(a) are believed on reasonable grounds to be carrying contraband or breaching a blockade, and after prior warning they intentionally and clearly refuse to stop, or intentionally and clearly resist visit, search or capture.«
17_http://studienbibliothek.org/texte/Kriegstreiber.shtml
18_Nur ein Beispiel: 1969, am Jahrestag der Reichspogromnacht, legten militante Linke unter der Parole »Schalom und Napalm« eine Bombe im Berliner Jüdischen Gemeindehaus. Ausführliches zum linken »Antizionismus« findet sich u. a. bei Martin Kloke, Israel und die deutsche Linke; Henryk M. Broder, Der ewige Antisemit; Lars Quadfasel, »Für das Gute, gegen die Juden« in: Initiative Antisemitismuskritik (Hg.), Israel in deutschen Wohnzimmern.