Donnerstag, 10. Dezember 2009

Halboffener Brief an Gruppe 170

Hallo Gruppe 170,

ich schreibe diese Mail, nachdem ich den Vorschlag für den Redebeitrag zum 13.12. gelesen habe. Ich verstehe ihn als halboffenen Brief, der ans Bündnisplenum und an euch geht. Auf dem Plenum am vergangenen Dienstag habe ich, nachdem angekündigt wurde, dass eure Gruppe gerne einen Redebeitrag halten möchte, dafür plädiert, dabei sehr offen zu sein, obwohl ihr keine Bündnisgruppe seid, dies aber ohne Probleme von unserer Seite hättet werden können. Meine Hauptgründe waren dabei natürlich zum einen, [ ... bündnisinterne Gründe gestrichen ...].

Der andere, für mich politisch wichtigere Grund, den ich auf dem Treffen genannt habe, ist der, dass ich in den Diskussionen um Antisemitismus eine Entwicklung für einen Fortschritt halten würde, in der verschiedene Positionen und Optionen im Kampf gegen Antisemitismus entstehen, und keine Diskussion darum geführt werden müsste, ob es überhaupt ein Problem gibt. Selbstverständlich gäbe es im Rahmen einer solchen Situation Positionen, von denen aus einige Entscheidungen, die das Bündnis explizit oder implizit gefällt hat, nicht vertretbar sind. Genauso selbstverständlich würde ich in dieser Situation für meine Sicht der Dinge werben und diejenigen politischen Aktionen unterstützen, die ich für die richtige Konsequenz meiner Analyse halte. Insofern wünsche ich mir, dass der Antisemitismus in der Zukunft, wie jeder andere untragbare gesellschaftliche Zustand auch, zum Gegenstand von Streits und Konflikten wird. Die Fähigkeit, Widersprüche und Konflikte darzulegen, auszutragen und auf ihre abschaffbaren Ursachen zurückzuführen, auch wenn die Abschaffung nicht unmittelbar Praxis werden kann, ist die unabdingbare Voraussetzung jeder Gesellschaftskritik, und die sollte sich die Linke auch im Fall des Antisemitismus erwerben.

Soviel zu meiner Motivation, für den von euch angefragten Redebeitrag ohne Kenntnis seines Inhalts zu plädieren. Mit Kenntnis des Inhalts, stellt sich die Situation für mich leider anders dar. Für im Rahmen des von mir gesagten befinden sich meines Erachtens diejenigen Passagen, die „eine vernunftbestimmte Auseinandersetzung mit dem Staat Israel“ anstreben. Käme es über diese Passagen zu einer Diskussion, würde ich darauf verweisen, dass ich dem zustimmen kann, würde aber die Frage aufwerfen, durch welche äußeren Umstände sich denn in dieser Welt wiederum die Vernunft bestimmt. Für meine Vermutung, dass ihr dies außer Acht lasst, würde ich etwa folgende Sätze anbringen: „Das heißt: Kritik an den aggressiven Anteilen der israelischen Politik des States Israel nicht reflexhaft mit der stereotypen Anklage des Antisemitismus zu begegnen. Eine kritiklose Zuwendung kennt keine Diskussion, nimmt den Staat Israel nicht ernst und fällt abgesehen davon hinter Positionen des israelischen Linken zurück.“

Die Sätze stimmen, nur wer kritisiert eigentlich Antisemitismus, ohne das zuvor tatsächlich antizionistisch/antisemitische Stereotypie vorgelegen hätte? Selbstverständlich gehört es zu den „aggressiven Anteilen der israelischen Politik“ und ist nicht reine Verteidigung, wenn etwa Anführer der Hamas angegriffen und getötet werden. Auch die israelische Armee setzt auf Optionen wie die präventive Schwächung des Gegners, zur Antwort auf die Frage welche Aktionen dieses Ziel erreichen und welche nicht unterhält sie einen Geheimdienst usw. Zu diskutieren wäre also, von welchen Bedingungen deren Vernunft bestimmt ist und dann hätten wir sicherlich einen Konflikt, aber eben im Rahmen des Gesagten.

Für die unmittelbare Bündnissituation wiederum stellt sich m. E. eine leicht andere Frage. Selbst wenn wir zu dem Ergebnis kämen, dass es solche reflexhaften Reaktionen irgendwo gibt: Wer im Bündnis reagiert auf die Art, die ihr kritisiert? Und wenn es welche gibt: Sind diese Gruppen so bestimmend, dass es euch unmöglich ist, eure Position einzubringen? An welchen Äußerungen macht ihr das fest?

Ihr unterlasst eine solche Argumentation weitgehend die einzige entsprechende Passage ist die zur Barmbeker Demo – und redet statt dessen allgemein von der „Theorie und Praxis antideutscher Gruppen“. Die Passage zur Barmbeker Demo ist mir zudem die unverständlichste eures Textes. Meines Wissens ist es unstrittig, dass diejenigen, gegen die sich die Demonstration richtet, am Herausprügeln der FahnenträgerInnen aus der Demo beteiligt waren. Wie könnt ihr dann sagen, dass sie „nicht eines Geistes mit Antisemiten“ seien, „wegen derer wir heute hier auf der Straße stehen“? Sicherlich, in Barmbek waren noch mehr Leute beteiligt, die „keine Nationalfahnen“ Begründung war die zentrale, aber das Mindestmaß an Eingeständnis in einer solchen Situation ist dann aber doch wohl, dass sich offensichtlich mit dieser Begründung derjenige Antisemitismus verdecken lässt, dem auch ihre eine „radikale und vollständige Absage“ erteilen möchtet. Warum seid ihr euch so sicher, dass dies auf diejenigen, die nicht am 25.10 den erneuten Beweis für die Richtigkeit der damaligen Kritik geliefert haben, nicht auch zutrifft?

Statt dessen gibt es jene Passagen zu antideutscher Theorie und Praxis, bei denen ich mich noch stärker frage, woran ihr diese Praxis fest macht. An der Stelle, an der ihr euch fragt, was das Motiv zur Aufführung gewesen sein könnte, vergesst ihr schlichtweg, dass an der Entscheidung zur Aufführung auch noch das b-movie beteiligt war. Zweifellos keine antideutsche Gruppe, die den Film einfach für einen interessanten Programmpunkt gehalten haben könnte. Oder findet ihr, dass diese automatisch auf die „politisch und neurotisch gespeisten Extreme“ der einen von euch als unversöhnlich gegenüberstehenden Seiten Rücksicht nehmen müssen, weil sie die Toiletten teilen und den gleichen Vermieter haben?

An den Stellen zur antideutschen Theorie und Praxis finde ich wiederum nur kaum begründete Vorstellungen. Um es klar zu sagen: Ein nicht kleiner Teil des Bündnisses SIND jene antideutschen Gruppen, von denen ihr behauptet zu reden. Wenn ihr etwas an deren/unserer Theorie zu bemängeln habt, bezieht es auf Passagen, die sie/wir geschrieben haben. Wer hat wann und wo behauptet, Angriffe auf uns seien generell antisemitisch? Wir kennen durchaus noch andere Begriffe und Erklärungen für die Vorgänge in dieser Welt, ihr vermutlich auch, und wenn ihr glaubt, der uns unterstellten Erklärung (Antisemitismus) eine andere entgegenstellen zu müssen, tut dies doch einfach. Und dass Gruppen verfeindet sind, ist keine Erklärung für etwas, sondern das zu Erklärende selbst. Wenn ihr Gegenteiliges behauptet, gebt ihr nicht Aussagen von Bündnisgruppen wieder, sondern die auf den Fake-Blogs geäußerten Phantasien, die mit dem Namen des Bündnisses und dem von Kritikmaximierung ins Internet gestellt wurden und bei denen es sich wohl um eine Art Nach-Vorne-Verteidigung handeln soll. Falls ihr sie nicht kennt, kann ich euch die Links gerne zukommen lassen.

Ihr wiederholt damit und mit der Behauptung, der Film sei nicht wegen des Films, „sondern wegen der unversöhnlichen Feindschaft zwischen den beteiligten Gruppen“ verhindert worden, die zentrale Verteidigung von B5, Sol und TAN. Ich denke es wird euch nicht überraschen, dass meine Motive, sich für den Beitrag auszusprechen, damit gegenstandslos geworden sind. Und ich hoffe, dass die anderen, die sich tendenziell für diesen ausgesprochen haben, dies genauso sehen.

Und zur Praxis: Diese Demo, an der ihr euch ja offensichtlich beteiligen wollt, wenn auch nicht als AufruferInnen, IST unsere Praxis. Und wenn ihr es denn tut, wird es auch eure sein. Wenn diese Praxis und ihre Folgen zu einer Spaltung der „ autonomen Bewegung“ führt (oder bereits geführt hat?), wird es das Ergebnis einer notwendigen inhaltlichen Klärung, und nicht unserer Rhetorik geschuldet gewesen sein. Es ist auch eure „radikale und vollständige Absage“, die zu einer solchen Spaltung führen kann. Eine solches Resultat solltet ihr dann auch eurem politischen Verstand zurechnen können. Und ob eine solche Spaltung zu einer Zerstörung der „autonomen Bewegung“ führt, oder ob eine Zerstörung nicht eher darin bestünde, zu einem zentralen Ausdruck der bestehenden Herrschaftsverhältnisse keine radikale Kritik erarbeiten zu können, dies zu beantworten überlasse ich euch.

Denn die Basis dafür – ich denke das ist unstrittig –, dass es überhaupt Antisemitismusstreits innerhalb der Linken gibt, ist doch wohl die Entstehung der antideutschen Linken. Mit wem zusammen würdet ihr denn eure „radikale und vollständige Absage“ demonstrieren, wenn nicht zusammen mit denjenigen, die sich seit Jahren unbeliebt damit machen, dass sie über Antisemitismus reden? Welches Bündnis hättet ihr alternativ gegründet?

Mit Grüßen, für die ich kein Wort kenne

jm