Sonntag, 13. Dezember 2009

Moishe Postone: Hamburg, 2009 – noch ein deutscher Herbst

Ich halte es für politisch wichtig, dass so viele aus der Linken die antisemitischen Ausdrucksformen ernst nehmen, die sich innerhalb jener Gruppen ausgebreitet haben, die sich selbst als antiimperialistisch betrachten. Möglicherweise führt es auch zu einer längst fälligen Klärung theoretischer Fragen. Der Gegenstand besteht nicht in der Frage, ob israelische Politik kritisiert werden darf. Israelische Maßnahmen sollten kritisiert werden, insbesondere wenn sie darauf zielen, jede Möglichkeit eines existenzfähigen palästinensischen Staates in der West Bank und Gaza zu unterminieren. Aber die vorherrschende Kritik am „Zionismus“ aus vielen antiimperialistischen Zirkeln zielt auf etwas jenseits einer Kritik an israelischen politischen Maßnahmen. Israel und den „Zionisten“ wird eine einmalige Bosheit und weltumspannende verschwörerische Macht zugeschrieben. Israel wird nicht kritisiert wie andere Staaten auch, sondern als Verkörperung von etwas wesentlich Bösem. Kurz gesagt: Das Bild dieser Antiimperialisten von Israel und den Zionisten ist in Wirklichkeit das gleiche wie das von den Juden in jenem virulenten Antisemitismus, der seinen reinsten Ausdruck im Nationalsozialismus fand. Die „Lösung“ ist in beiden Fällen die gleiche: Vernichtung im Namen von Befreiung.

Die konventionellen stalinistischen und sozialdemokratischen Darstellungen von Nazismus und Faschismus als Werkzeugen der Kapitalisten, benutzt um die Organisationen der Arbeiterklasse zu zerschlagen, unterschlugen schon immer eine ihrer zentralen Dimensionen: Diese Bewegungen, sowohl ihrem Selbstverständnis nach wie in ihrer Anziehungskraft für die Massen, waren Revolten. Nationalsozialismus stellte sich als Kampf für Befreiung dar (und unterstützte „antiimperialistische“ Bewegungen in der arabischen Welt und Indien). Die Voraussetzung für dieses Selbstverständnis war ein fetischistisches Verständnis von Kapitalismus: Die abstrakte, unangreifbare, weltweite Herrschaft des Kapitals wurde als die abstrakte, unangreifbare, weltweite Herrschaft der Juden verstanden. Weit entfernt davon, einfach ein Angriff auf eine Minderheit zu sein, verstand sich der nationalsozialistische Antisemitismus als antihegemonial. Sein Ziel war die Befreiung der Menschheit von der rücksichtslosen, allgegenwärtigen Herrschaft der Juden. Es ist eben dieser antihegemoniale Charakter des Antisemitismus, der ein so besonderes Problem für die Linke darstellt. Deshalb konnte vor einem Jahrhundert vom Antisemitismus als dem „Sozialismus der dummen Kerls“ geredet werden - heute trifft eher der „Antiimperialismus der dummen Kerls“.

Diese antisemitische Variante von Antizionismus ist unglücklicherweise nicht neu. Es war zentral für die stalinistischen Schauprozesse der frühen fünfziger Jahre, insbesondere in der Tschechoslowakei, dass internationalistische Kommunisten, viele von ihnen Juden, als „zionistische Agenten“ angeklagt und erschossen wurden. Diese chiffrierte Form von Antisemitismus, die ursprünglich nichts mit den Kämpfen im mittleren Osten zu tun hatte, wurde durch die Sowjetunion und ihre Alliierten während des kalten Krieges dort angesiedelt – insbesondere durch die Zusammenarbeit des Geheimdienstes der DDR mit nah- und mittelöstlichen Verbündeten, man denke nur an die RAF und die diversen „radikalen“ Palästinensergruppen.

Dieser „linke“ Antizionismus hat sich mit arabischem Nationalismus und radikalem Islamismus verbunden – von denen keiner progressiver ist als irgendein anderer radikaler Nationalismus, wie zum Beispiel albanischer oder kroatischer – und rechtfertigt seinen Vernichtungswunsch gegen die Juden in Israel als einen gegenüber „europäischen“ Kolonisatoren. Wann immer die eliminatorischen Impulse gegen Juden in Israel am stärksten wirken, wird die Legitimität Israels am heftigsten in Frage gestellt – mit Argumenten, die von der Behauptung, die meisten europäischen Juden stammten gar nicht „biologisch“ aus dem mittleren Osten (eine These, die schon 1947 das Arab High Committee aufstellte und gerade von Shlomo Sand „wiederentdeckt“ wird) bis zu Vergleichen mit den pied noir reichen: Als typische europäische Kolonisatoren müsse man sie nach Hause schicken. Es ist unglücklich, wenn auch nicht überraschend, dass radikale Nationalisten im mittleren Osten die Sache so sehen. Es wird allerdings pervers, wenn Europäer – insbesondere Deutsche – gerade Juden, die seit einem Jahrtausend von Europäern am stärksten verfolgte Bevölkerungsgruppe, mit eben diesen Europäern gleichsetzen. Indem sie die Juden mit ihrer eigenen mörderischen Vergangenheit identifizieren, versuchen sie der Verantwortung für die Last dieses Erbes zu entgehen. Das Resultat ist ein Umgang mit der Vergangenheit, der vorgibt sie zu bekämpfen, während er sie tatsächlich erhält und fortschreibt.

Diese Form von Anti-Zionismus ist Teil einer Kampagne zur Vernichtung Israels, die seit dem Beginn der zweiten Intifada an Macht gewinnt. Die Fokussierung auf die Schwäche der Palästinenser verhüllt nur das eigentliche Ziel. Diese Form von Antizionismus ist Teil des Problems und nicht der Lösung. Weit entfernt davon, progressiv zu sein, verbündet er sich mit radikalen arabischen Nationalisten und Islamisten, also der radikalen Rechten im mittleren Osten, und stärkt damit auch noch die israelische Rechte. Er ist wesentlich für einen Krieg, der immer mehr einem Nullsummenspiel gleicht und unterminiert damit jede Möglichkeit einer gangbaren politischen Lösung – das Rezept für einen endlosen Krieg. Der Hass, der sich in diesem Antizionismus ausdrückt, sprengt den Rahmen von Politik, weil er ebenso grenzenlos ist wie sein imaginiertes Objekt – eine Grenzenlosigkeit, die auf den Wunschtraum von Vernichtung verweist. Die Deutschen, und mit ihnen genug andere Europäer, kennen diesen Vernichtungstraum nur allzu gut. Es ist Zeit, daraus endlich aufzuwachen.


(Grußwort an die Hamburger Demonstration gegen Antisemitismus, 13.12.09)

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